Karl-Heinz Klopf

Karl-Heinz Klopf
BY WAY OF DISPLAY
Urbane Taktik im Kontext der Betelnusskultur in Taiwan

Über den Film By Way of Display (2003, 37 Min.)


INFORMAL SECTOR

Boomartige ökonomische Wachstumsschübe sowie Rezessionen entwickeln entsprechend ihrer jeweiligen kulturellen Kontexte neue urbane Räume und neue Formen des (Über)Lebens.

In Taiwan, in einer mehrheitlich in Städten lebenden Gesellschaft, hat sich durch die sehr rasche wirtschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und durch die Notwendigkeit, diese Situation zu bewältigen, ein Raum- und Arbeitsbeschaffungszweig entwickelt, der als Informeller Sektor subsumiert wird.

Bestehende Gebäude wurden zwecks raschem Raumbedarf für Produktion und Lagerung illegal, jedoch toleriert, in alle Richtungen erweitert. Wohnzimmer wurden kurzerhand zu Produktionsstätten umfunktioniert. „Family as a factory“ war ein von der Regierung geförderter Slogan. Mobile behelfsmäßige Konstruktionen entstanden zum Verkauf von allem Möglichen.

Der vielleicht kulturell interessanteste und speziellste Sektor ist der, der sich in den letzten Jahren durch die neuen Strategien der Vermarktung von Betelnüssen entwickelt hat: Es entstand eine neue, eigenständige Kultur, die sich aus unterschiedlichen regionalen und globalen Einflüssen generiert.


CHEWING BETEL NUTS


Anbau von Betelnußpalmen, Vermarktung und Konsum der Nüsse ergeben in Taiwan einen Komplex besonderer Art, der auf den Straßen des Landes in Erscheinung tritt.

Das Kauen dieser Nüssen geht nach allerjüngsten Forschungen bereits tausende Jahre auf Bergstämme im Südwesten der Insel zurück. Im 17. Jahrhundert kam die erste Welle der Han aus Südchina, die diese Tradition übernahmen und weiter führten.
Heute ist der zum Teil illegale Anbau von Betelpalmen, besonders in den Bergen, und die Vermarktung von Betelnüssen ein nationaler Wirtschaftsfaktor.

Betelnüsse werden vorwiegend von Lastwagenfahrern, die oft lange unterwegs sind und Männern unterer Einkommensschichten konsumiert. Die Wirkung beim Kauen ist ein Gefühl von Wärme im Körper durch die Stimulierung des zentralen Nervensystems. Es soll jedoch auch nachgewiesen sein, dass der regelmäßige Konsum Mundkrebs hervorrufen kann.
Es gibt geschätzte 100.000 Betelnussstände und Shops im ganzen Land, vorwiegend an hoch frequentierten Straßenabschnitten, Kreuzungen und Auffahrten zu Highways.

Schon von Weitem fallen sie dem Autofahrer durch das Pfauenzeichen aus bunten Leuchtstoffrohren und durch die oft große Anzahl von Blinklichtern auf und überblenden somit die unübersichtliche Dichte von Billboards und Werbeschilder an den Hausfassaden. Diese Erhellung der Straßenräume erfährt eine Steigerung je näher man den Betel Nut Shops kommt. Raumhohe Glasschaufenster, rollbare Boxen aus Glas, oder aufgestelzte, in fröhlichen Farben gehaltene Container, sind mit ausgeschnittenen Glasflächen und Spiegeln ausgestattet. Sie bilden die räumliche Struktur für junge Mädchen die knapp geschnittene „Uniformen“ tragen, den so genannten Betel Nut Beauties.
Bleibt man vor einem dieser Stände stehen, kommt das Betel Nut Beauty schnellen Schrittes zum Fahrzeug, um nach dem Wunsch zu fragen. Angeboten werden Betelnüsse, Zigaretten, Aufputschgetränke, Auskünfte über die Umgebung und wenn es nicht zu eilig ist, eine kurzer Plauderei. Dieses Service, die abgehobene Erscheinung der Mädchen verbunden mit der Möglichkeit einer kurzen Interaktion der Nähe im sonst trüben Arbeitsalltag, stellt einen wesentlichen Aspekt des Erfolgs im hart umkämpften Betelnussmarkt dar.


PERFORMING THE STEETS


Mit dem raschen Ausbau der Schnellstraßen, durch die Bauarbeiten in den Städten und den damit verbundenen massiven Ansteigen des Schwerverkehrs in den boomenden 1970er und 1980er Jahren, verbreitete sich die Gewohnheit rasch auf alle Regionen, auch in den Städten.

Zur selben Zeit wächst der informelle Bausektor in Form von illegalen Erweiterungen und Aufbauten existierender Gebäude um den rasch anwachsenden Raumbedarf zu decken. Temporäre Stores, einfache und mobile Einheiten prägen überall den Straßenraum. Anfangs waren die Verkaufsstände für Betelnüsse meist einfach gehaltene, mobile Objekte, die sich nicht wesentlich von anderen Verkaufsbuden unterschieden.
Der große Konkurrenzdruck um die Mitte der 90er Jahre jedoch, forcierte viele Besitzer von Betelnussständen neue Marketingideen zu entwickeln. Die Taktiken um Kunden anzulocken wurden immer raffinierter. Mittels den bunten, blitzende Lichtern und den leicht gekleideten Mädchen wurde ein lebhaftes Display zur Betörung der Sinne auf den eher wenig attraktiven Straßen konstruiert. Die Mädchen wechseln die „Kostüme“ täglich. „Krankenschwester“, „Militär“, oder Charaktere die sich aus japanischen Manga-geschichten ableiten, sind einige der Themen die den motorisierten Kunden abwechselnd vorgeführt werden. Für den in Taipeh lebenden Architekten Chi Ti-nan sind diese verführenden Erscheinungen eine Art von mikro-urbaner Taktik und eines der urbanen Phänomene aus denen Planer und Architekten lernen können.
Das Potential der Straße als performativer Raum wird in höchst delikater Weise ausgelotet. Manchmal wagen sich die Mädchen winkend und mittels tanzenden Bewegungen sehr weit in den Verkehr hinaus, um noch unmittelbarerer ihre Präsenz geltend zu machen. Die Mädchen fühlen sich dabei oft als die Stars der Straße, was auch in der Inszenierung mittels Ingredienzien der Pop Kultur zum Ausdruck gebracht wird: Bltzlichter, laute Pop- und Techno-musik, „heisse“ Kleidung.
Solche offensive Strategien haben neben den möglichen höheren Umsatz sehr oft Strafzahlungen, manchmal auch Verkehrsunfälle zur Folge.
Als weiteren Aspekt dieser informellen Aktivität entwickelten die Besitzer des Betelnut business immer besser ausgeklügelte Systeme des Verschwindens. Ein Beispiel hiefür sind die auf Schienen aufgesetzen Verkaufsboxen, die jederzeit innerhalb einer Minute vom Strassenrand weg in das bestehende Haus hinein geschoben werden können. Andere Shops können einfach auf einen Lastwagen geladen, um anderswo wieder in Betrieb genommen zu werden.

Abgesehen von den negativen Effekten des Betelnussgeschäftes, wie Erderosion durch den Anbau in illegalen Gebieten der Bergregionen oder den möglichen gesundheitliche Schäden, ist das Phänomen ein Beispiel dynamischer und kreativer räumlichen Interventionen, Bedürfnissen, die ohne Planung, quasi anonym im Zwischenbereich offizieller Strukturen entstanden ist. Wir haben es hier mit einer Kulturform zu tun, die sich aus eigenen Traditionen, aktuellen Bedingungen und überregionalen Einflüssen entwickelt.
Tausende Stände an den verkehrsreichen Straßen haben über die ganze Insel ein authentisches Servicenetz geschaffen, dass das Potential für weitere Möglichkeiten kommunaler und kultureller Entwicklungen in sich birgt.



Erschienen in: AD/Urban Flashes Asia, Vol 73, No5, John Wiley, London, 2003.

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