Karl-Heinz Klopf

Elisabeth Schlebrügge
HIC SUNT LEONES
Zu den „Planobjekten“ (1990 – 1993)


„In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine derartige Vollkommenheit, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer ganzen Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese übermäßig großen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, dass diese ausgedehnte Karte überflüssig sei und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens haben sich bis heute zerstückelte Ruinen der Karte erhalten, von Tieren behaust und von Bettlern; im ganzen Land gibt es sonst keinen Überrest der geographischen Lehrwissenschaften.“
(Jorge Luis Borges, Von der Strenge der Wissenschaft, nach Suárez Miranda, Viajes de Varones Prudentes, libro cuarto, cap.  XIV, Lérida, 1658)



Mit geradem Rücken lässt das Kind sich zurück in den Schnee fallen und zeichnet, die Arme durchgestreckt von der Schulter zur Hüfte und zurück schwingend, Engel in den Schnee: ein Körper-Bild auf jener Berührungsfläche, die die äußere Hülle vorübergehend zur inneren macht, in einem flüchtigen Moment auf jenen Zustand verweist, wo (am Anfang und am Ende des Lebens, Uterus und vernähtes Segeltuch im Seemannsgrab) in der engen Umhüllung der Körper und der Ort, den er einnimmt, nahezu identisch sind. Mit den Abständen, den Trennungen tritt Raum dazwischen; seine zunehmende Wahrnehmung verhält sich komplementär zur Konstituierung des Subjekts. In der Ausdifferenzierung von außen und innen scheint zuerst die innere Bewegung in die äußere Form der Zeichnung fixiert zu werden; viel später erst werden Ansichten von Häusern gezeichnet, mit Schornstein und Fensterläden, wo der Standpunkt des Zeichners unmissverständlich außen liegt.  Vielleicht macht gerade das die Faszination der Pläne aus, dass sie beides aufbewahren, Blick von außen und die Möglichkeit, sich hineinzuversetzen.

Das Kind entdeckt seine Leidenschaft für Landkarten. Schließt sich in sein Zimmer ein und sitzt stundenlang über einem alten Atlas. Dass da eine Wirklichkeit eingezeichnet ist, die so wenig Ähnlichkeit mit der gewohnten hat, setzt es in Erstaunen – für alle soll sie verbindliche Geltung haben und lässt doch dort, wo die Erfahrung mangelt, so viel Platz für die Vorstellung im Kopf jedes einzelnen. Es zeichnet Pläne von Orten, an denen es nie gewesen ist und die es gar nicht gibt, von einer unbekannten Stadt am Meer. Einmal sieht es irgendwo auf einem Fresko eine Abbildung von der Welt, auf dem die Kontinente eine andere Anzahl und eine andere Form haben als die, die es aus seinem Schulatlas gewohnt ist. Gespannt entziffert es die Schrift auf der weißen Fläche an den Rändern; TERRA INCOGNITA, der unbekannte Erdteil, und HIC SUNT LEONES, hier wohnen die wilden Löwen.

Fremde Orte und vertraute: Immer schon wird das Subjekt definiert über seinen Bewegungsradius, seine Umgebung, seinen Ort, den es bewohnt oder als Flüchtling, Emigrant, Asylant verloren hat.  „Über die Sfäre der Frauen“ hatte Novalis an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert notiert: „die Kinderstube – die Küche – der Garten – der Keller – das Speisegewölbe – die Schlafkammer die Wohnstube – das Gastzimmer – der Boden oder die Rumpelkammer“. Neben der Zuschreibung von außen steht das Bedürfnis, sich einzurichten im Vertrauten wie im Fremden, als Sicherung von Identität, Vergewisserung. Der Ort, eingeschrieben in den Körper; Bewegung, Funktion, Gewohnheit umreißen ihn („da sind wir immer durchgegangen“; ohne zu zögern, die Zahl der Stufen, die bis zur Haustür zu nehmen sind; automatisiert, die Körperwendung" wenn nach so oder so vielen Schritten in die Gasse links oder rechts einzubiegen ist auf dem Heimweg). Bewegungsabläufe, die zusammen mit Geräuschen und Gerüchen die Leitspuren auch der mémoire involontaire markieren, nicht nur wie die künstlich in der Vorstellung installierten Orte des antiken Gedächtnistheaters der ars memorativa („la memoria artificiale consiste ex locis et imacinibus“), die mit selbstgewählten Bildern besetzt und willkürlich abgeschnitten werden können, um den Text der Rede zu rekapitulieren. Eine Spur, die verfolgt werden kann auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zu einer Erzählung zusammengefügt, oder die archäologischen Schichten der Erinnerung auf eine plane Fläche gekippt, Engramm einer inneren Landkarte von Orten, an denen man gewesen ist oder die aufzusuchen, zu entdecken man sich sehnt, ein Lageplan des Erlebten auf dem Reißbrett, alle Pathosornamente abgeschliffen.


Erschienen in: Karl-Heinz Klopf - Planen. Secession, Wien, 1993.

Nach oben