Karl-Heinz Klopf

Marc Ries
VIRTUOSE URBANITÄT
Überlegungen zu dem Video Environments


Das Video Environments (1998) ist sublimes Dokument eines Epochenbruchs. Es verfügt über zwei Medien, Bild und Sprache, um über etwas Auskunft zu geben, das jenseits dieser Bilder und dieses Sprechens liegt, das mit dem Medium Video auch gar nicht demonstrierbar, erfahrbar ist, da es auf einen völlig neuen Status von Produktivität und Kommunität verweist. Dennoch ist das Video beredter Zeuge, ist sensible Spur einer immensen Transformation unserer symbolischen Ordnung, da es das eine Material, das in Überforderung an sein Ende kommt, noch einmal in prägnanten Tableaus zeigt: die STADT, und das andere Material: das SPRECHEN, sich selbst im Umgang mit dem Neuen des Internets, zögerlich und erregt zugleich, beschreiben lässt. Dass das Sprechen, das Kommunizieren im Netz zur neuen „Königin der Produktivkräfte“ (Virno) avanciert, also die Tätigkeit ohne Werk das alte produktorientierte Machen hintan stellt und einen virtuosen Raum ausbildet, der vieles von dem (wieder)ermöglicht, woran der urbane Raum gebauter Städte scheitert, das ist eine der explikativen Aussagen von Environments.

Doch schauen wir etwas genauer hin, betrachten wir die Einzelteile: Karl-Heinz Klopf bereist 14 Städte, er macht Interviews in diesen Städten mit 37 Akteuren, diese lassen sich großteils dem Sektor der Creative Industry und des Universitären zuordnen, er filmt aber auch Wege durch die Stadt, Autofahrten und Blickkonstellationen und Perspektiven in Innenräumen. Die Erzählungen bilden die Sprachspur des Films, jedem Sprecher sind Bilder der jeweiligen Stadt zugeordnet, in der die Person interviewt wurde, die Statements sind immer nur in Fragmenten zu hören, sie sind über das ganze Video verstreut. Eingeblendet sind abwechselnd die Namen der Person und der Stadt. Der zweite Teil des Projektes ist eine Publikation der kompletten Sprachspur des Videos in der genauen Reihenfolge der Fragmente, ergänzt um einige wenige Stills aus dem Bildmaterial. Mit dieser Arbeitsweise übernimmt Klopf das Format etwa von Berichterstattungen im Fernsehen, unterläuft dieses dennoch radikal zugunsten einer subtilen Aufwertung des Materials selbst, des Empirischen – dem Bild von Städten, dem Ton von Sprechenden – und einer Montage, die einer dokumentarischen Kontinuität ohne Wertung und Analyse folgt.

Die erste Erfahrung, die das Video vermittelt, ist eine Art phänomenologische Ambivalenz. Es ist, als ob die jeweils Sprechenden (die ja „nur“ mit ihrem Sprechen anwesend sind, auch wenn sie an konkreten Orten der Stadt sich befinden, also in alten Räumen sich nach wie vor aufhalten) mit diesem Sprechen alleine die so ganz andere Räumlichkeit des Netzes beschwören – diese aber uneinsehbar bleibt – und zugleich die Bilder der physischen Stadt ihrer Bedeutsamkeit entkleiden wollen. Eigentümlich verstärkt wird dieser Eindruck durch die sehr kurzen Einblenden – dann doch – der Sprecher und Sprecherinnen, die sie zwar als Körper und in einem genauen Raum zeigen, der rasche Entzug dieser Bilder jedoch ihren potentiellen Aufenthalt im Nicht-Materiellen der Netze umso spürbarer macht. Diese Ambivalenz mag konstitutiv für die Wirklichkeitserfahrung der Gegenwart sein. Ich möchte in drei Schritten der ästhetischen List in der Arbeit von Karl-Heinz Klopf folgen: im Befragen des Interviews als ästhetische Praxis, der Gestaltung der Virtuosität der Netzkommunikation als Videodokument und der Reisemotive des Künstlers.


INTERVIEW ALS ÄSTHETISCHE PRAXIS

Das Interview, entwickelt als eine Kommunikationstechnik der Massenmedien, dient der Befragung von „besonderen“ Menschen – Experten, Betroffenen, Stellvertretern, Stars ... – zum Zwecke der Informationsbeschaffung, der Berichterstattung, der Möglichkeit zur Selbstdarstellung, der Selbstpositionierung des Interviewten, allgemeiner der „Selbstdiskursivierung von Gesellschaft“: Mit endlos sprechenden Individuen, Talking-Heads ein Auskommen in einer von Orientierungsschwäche, Traditionsverlust und Identitätsbrüchen gezeichneten Kultur finden. Beginnend mit der Videokunst, doch in den letzten Jahren – mit dem „Return of the Real“(1) als Ausgangspunkt – zunehmend eingesetzt in divergenten Spielarten, lässt sich als Erstes sagen, dass, wenn die Kunst das Interview als ästhetische Praxis einführt, sie zunächst nur die Technik als solche übernimmt und „bloß“ eine Veränderung der dispositiven Bedingungen herbeiführt: 1. Die institutionellen und produktionstechnischen Frames entfallen, der Künstler vereint beides in seiner Handlungsmacht. 2. Ausgesucht werden jene Menschen, die von den politisch-medial sanktionierten Diskursen ansonsten ausgeschlossen sind. 3. Das Interview erfährt keine regulierende Kommentierung von außerhalb, das Sprechen selbst wird als Medium der Aussage in seinem Eigenrecht belassen, das Sprechen als Sprechen legitimiert. 4. Der Raum der Rezeption ist zumeist nicht der massenmedial konfigurierte, sondern der besondere White Cube des Kunstraums.
Als Zweites gilt, dass nicht das Interview alleine als Material und Akt definiert wird, sondern das Gespräch in der Montage mit Bildern oder als Teil einer Installation erweitert, resemantisiert, umgedeutet wird mit Aussagen, die aus dem Dazwischen – zwischen Bild und Gespräch, zwischen Gespräch und den anderen Installationselementen – kommen. So verfährt auch Karl-Heinz Klopf: Die Gespräche werden mit einer Bildspur kombiniert, die zwar der physischen Adressierung des jeweils Sprechenden entspricht, die Stadt als solche beginnt jedoch ihr gefährdetes Eigenleben zu zeigen. Sie lässt das Nicht-Zeigbare der Netze umso mehr als Latentes spürbar werden, als zunehmend offensichtlich wird, dass vielleicht nicht „dieses hier: das Netz, jenes dort: die Stadt, zerstören wird“(2), doch das Netz offensichtlich über die Möglichkeitsgrenzen der Stadt hinaus ermächtigt ist, vieles Uneingelöste des Urbanen tatsächlich verfügbar zu machen. Doch was genau ist es, was das Interview ins Spiel setzt? Eine erste Antwort kann folgende sein: Mit einem Video wie Environments wird offensichtlich, dass die Gegenwartskunst die allgemeinen gesellschaftlichen, ökonomischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte aufnimmt, sich vergleichbaren Phänomenen zuwendet und gestaltet wie die, die innerhalb der System- und Lebenswelten diese transformiert haben. Das Phänomen der Diskursivierung, der Kooperation, der Flexibilisierung etwa. Diese Phänomene etablieren sich allerdings umfassend nicht in und mit den alten Massenmedien (Kino, Radio, Fernsehen, das Aufzeichnungsmedium Video), sondern als Effekt der kooperativen Datennetze. Der Epochenbruch wird per se entlang der Evolution des Internet erkennbar, die alten Medien arbeiten dem bloß zu. Insoferne ist Environments auch „nur“ Dokument, jedoch vollends ausgestattet mit allen Symptomen, die das Neue und den Bruch für die Betrachtung erfahrbar machen können. Um was also geht es?


VIRTUOSITÄT DER NETZKOMMUNIKATION ALS VIDEODOKUMENT

Aus der Sicht einer kritischen Kulturtheorie ist das Netz Spiegelbild einer post-fordistischen Ökonomie, nicht weil es als konkreter Markt sich gefügig zeigen würde, sondern weil seine Struktur einer der substantiellsten Eigenschaften dieser Ökonomie paradigmatisch ausstellt. „Tätigsein im Internet“ meint Produktion von „Kommunikation mittels Kommunikation“, also eine Produktion, die nicht von ihrer Herstellung zu trennen ist, ein Akt, der seine Erfüllung nicht in einem Werk, sondern in sich selbst findet.(3) Dieser Akt ist der des Sprechens, der Sprache, genauer der des geschriebenen Sprechens, der Textualisierung der Rede. Die Schrift, der Text, sie sind insoferne kein in sich abgeschlossenes Werk, als sie sich beständig erweitern, verändern, sich ihrem Gegenteil gegenüberstellen, Performance bleiben, nicht zur endlichen Aussage gerinnen. Das Netz stellt die Potentialität der Sprache, des „beliebigen Sprechens“ aus, ist ihre Praxis wie ihre Poesis. Zudem setzt die Tätigkeit des Sprechens die „Anwesenheit anderer voraus“, benötigt ein Publikum, ist also stets auch Gebahren einer Öffentlichkeit. Und sie weist sich als eine aus, die „grundlegende Vertrautheit mit Kontingenz“, also mit Unvorhersehbarem, Unplanbarem hat. Das, was im Internet passiert, ist Demonstration einer politischen Ordnung, es folgt dem Impetus der Kommunikation, des Sprechens und Verhandelns, gleichwohl wird es der Ökonomie untergeordnet, Kommunikation wird zum Spektakel, wird zur Ware. Das Internet und seine Techniken der offenen Rede, des Austauschs, der Teilhabe sind der Logik der Kulturindustrie geschuldet, in der es durchaus notwendig ist, „dem Informellen, dem Nicht-Geplanten, dem plötzlichen Sicheinstellen aus Unvorhergesehenem, der kommunikativen und schöpferischen Improvisation einen gewissen Raum zu überlassen; nicht, um die menschliche Kreativität zu fördern, wohlverstanden, sondern um eine zufrieden stellende Produktivität der Firma zu erreichen.“ Dafür würden die meisten der Berufe sprechen, die auch in dem Video Environments zu Wort kommen, es sind die Jobs des graphic designer, des software developer, des creator and director, des writer, des artist ..., die hier ihre Erfahrungen mit dem neuen Medium zumeist als großes Ereignis beschwören. In dieser einen Lesart bildet das Internet als kooperatives Medium einen virtuosen Kommunikationsraum aus, der Vorbild für postfordistische Ökonomieprogramme ist.

Andererseits vermag das dominante Medium des Internets, die Sprache, die Schrift, einen jeden, der sich im Netz bewegt, nur aufgrund seines beliebigen Sprechvermögens in die Lage zu versetzen, teilzunehmen am „öffentlichen Intellekt“ des Netzes, ein Intellekt, der viel universeller ist, als der Staat oder der Markt – oder die Stadt. Die urbane Erfahrung ist heute kaum mehr gleichzusetzen mit spannungsvoller Dichte, einer friedvollen Begegnung mit Fremden, einer inspirierenden Komplexität, zu stark sind die Einwirkungen der Kontrolle des öffentlichen Raums, der Verlust an substantiellen Gemeinschaften, der sozialen Spannungen und der potentiellen terroristischen Übergriffe. Städte werden zu einem „Un-Zuhause“, das kaum mehr Sicherheit und Schutz bietet. Das Internet hingegen mag in der Lage sein, neue Umwelten zu schaffen, die einzig über das universelle Sprechen, über „die konkrete Aneignung und Neuformulierung von Wissen und Können“, sich definieren. Auch hiervon gibt das Video Auskunft.


REISEMOTIVE

Die 14 Städte im Video sind körperlich erfahrene Städte, wie auch die Reise zu ihnen. Die Städte liegen in großer Weite voneinander: Tokyo, Mumbai, Berlin, New York. Die Bewegung zu ihnen hin und in ihrer oftmals gewaltigen Größe folgt einer Vorstellung von Reise, die in die Erfahrung von Stadt die Begegnung mit der „Fremdheit ihres Gesichts“ (Kracauer) legt, ein Gesicht, das man nicht dem massenmedialen Bild oder der ökonomischen Statistik allein überlassen will. Ankommen in der Stadt bedeutet hinfort Aufnahme einer Suche nach einem möglichen Kontakt, einer Nähe und einem Erkennen von Anderem, von Fremdem. Nicht interessiert die affektive noch die verdinglichende Bindung ans Andere, sondern seine nüchterne Dokumentation – also die über die bloße Erscheinung hinausgehende Bescheinigung, die Bezeugung und auch die Befragung, dass sich dieses und jenes dort und hier ereignet und warum. So ist etwa in dem Video By Way of Display (2003) das Ereignis das inszenierte Verkaufen eines legitimierten Rauschmittels in Taiwan. Environments wiederum ist eine Begegnung mit einer (Um)Welt, die keinen präzisen Ort kennt, sondern ortslos, besser „allerorten“ sich etabliert hat. Das Netz ist überall, ist allgegenwärtig. Jedoch, und das sagt das Video auch, seine Akteure befinden sich nicht in dieser Zone alleine, sondern stets auch an genau lokalisierbaren, von einander oft weit getrennten Orten, in besonderen kulturellen und persönlichen Milieus, in partikularen oder singulären Umwelten. Von diesen Orten aus, mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten erst humanisiert das Netz zu jenem Environment, das auch eine Rehumanisierung unserer körperlich-physischen Aufenthaltsorte in Aussicht stellt. Insoferne wird auch die Stadt als solche aufgewertet und prospektiv ihr Wiedererscheinen angedeutet.


1) Siehe: Foster, Hal. The Return of the Real: Art and Theory at the End of the Century. Cambridge: The MIT Press: October Books 1996.
2) In Anlehnung an Victor Hugos bekannte Formel zum medialen Epochenbruch in der frühen Neuzeit, der vom Wechsel des Glaubens (die Kathedrale) zum Wissen (das Buch) spricht.
3) Alle in diesem Kapitel als Zitate ausgewiesenen Satzteile sind dem Buch von Paolo Virno, Grammatik der Multitude: Wien 2005, entnommen.


Erschienenen in: Karl-Heinz Klopf: From/To. Bielefeld/Leipzig, Kerber Verlag, 2007.

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